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Naher Osten und Nordafrika

Die Entwicklungen im Nahen Osten und in Nordafrika haben immer auch Auswirkungen auf Europa. Nicht nur durch die Geografie sind die beiden Regionen unverrückbar verbunden, sondern auch über historisch gewachsene, vielfältige kulturelle und soziale Wechselbeziehungen.

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Entwicklungen im Nahen Osten und in Nordafrika haben immer auch Auswirkungen auf Europa. Nicht nur durch die Geografie sind die beiden Regionen unverrückbar miteinander verbunden, sondern auch über historisch gewachsene, vielfältige kulturelle und soziale Wechselbeziehungen. Welche erheblichen Folgen die Destabilisierung des Nahen Ostens und Nordafrikas für Deutschland und die Europäische Union mit sich bringen kann, haben nicht zuletzt die Migrations- und Fluchtbewegungen ab dem Jahr 2015 gezeigt. Auch die Anschläge dschihadistischer Terrororganisationen, die auf beiden Seiten des Mittelmeeres Anschläge verübten, machen die sicherheitspolitische Interdependenz deutlich. Deutschland und Europa haben daher ein primäres Interesse an Stabilität und friedlicher Entwicklung im Nahen Osten und Nordafrika.

Der Nahe Osten und Nordafrika gehören zu den weltweit konfliktreichsten Regionen, in denen sich interne Unruhen, zwischenstaatliche Auseinandersetzungen sowie regionale Konflikte gegenseitig beeinflussen oder gar verschärfen. Gewaltsam ausgetragene Bürgerkriege in Syrien, in Libyen und im Jemen haben sich im Zuge der wachsenden Rivalitäten zwischen Regional- und Großmächten zu endlosen Stellvertreterkriegen entwickelt. Sie haben hunderttausenden Menschen das Leben gekostet und Millionen vertrieben. Etwa 40 Prozent der Flüchtlinge und Vertriebenen weltweit stammen heute aus dem arabischen Raum. Die meisten haben in den Nachbarländern Schutz gefunden. Die Türkei hat sich inzwischen zum weltweit größten Aufnahmeland von Flüchtlingen entwickelt. Pro Kopf gerechnet tragen Jordanien und der Libanon, wo jeder vierte Einwohner ein Flüchtling ist, eine noch größere Last. Vor diesem Hintergrund bleiben Flucht und Migration Kernherausforderungen nicht nur für Europa, sondern vor allem für die Aufnahmegesellschaften in der Region, in denen ohnehin schwierige sozioökonomische Bedingungen herrschen.

Die Region ist geprägt von fragiler Staatlichkeit, politischer Unsicherheit sowie sozialen und wirtschaftlichen Problemen. Die umfassende sozioökonomische Krise, die den politischen und gesellschaftlichen Umbruchsprozessen ab 2011 zugrunde lag – welche allgemein als Arabischer Frühling bekannt wurden, blieb vorwiegend ungelöst und setzt die Regierungen weiterhin unter Druck. Die lang angehaltene Wahrnehmung einer durch „autoritäre Stabilität“ geprägten Region hat sich als irreführend erwiesen. Was sich stattdessen herausgestellt hat, ist eine grundsätzliche Krise der Regierungsführung, wachsende Unzufriedenheit und Frustration verschiedener sozialer Schichten aufgrund einer ökonomisch zunehmend bedrückenden Lage. Die seit 2019 wieder vermehrt aufflammenden Protestwellen vor allem in Algerien, Ägypten, dem Libanon, Sudan und Irak, in denen zumeist junge Menschen ihre Forderungen kollektiv in politischen Druck zu übersetzen versuchten, sind als der wichtigste innenpolitische Faktor in den Ländern der Region zu verstehen, der für die kommenden Jahre von entscheidender Bedeutung sein wird. Die Corona-Pandemie ab 2020 ebenso wie die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im Frühjahr 2022 hinsichtlich Fragen regionaler Nahrungsmittelsicherheit wirkt dabei wie ein Brandbeschleuniger für bereits bestehende Krisen, sowohl in wirtschaftlicher als auch politischer Hinsicht. Das Misstrauen zwischen Regierenden und Gesellschaft droht sich zu vertiefen, die „Versicherheitlichung“ staatlicher Politik beziehungsweise der Einfluss der Sicherheitsapparate wird zunächst weiter zunehmen.

Der Region stehen aber nicht nur innerstaatlich turbulente Zeiten bevor. Der israelisch-palästinensische Konflikt, der zu den „eingefrorenen“ Dauerkrisen der Region gehörte, droht regelmäßig, eine dramatische Wendung nehmen, während die Perspektive einer verhandelten Zwei-Staaten-Lösung in immer weitere Ferne rückt. Gleichzeitig lassen sich jedoch auch Annäherungs- und Entspannungstendenzen zwischen regionalen Rivalen wie Saudi-Arabien und dem Iran oder der Türkei und den VAE beobachten. Diese sind Ausdruck einer regionalen Neusortierung, die indes sehr dynamisch ist. Daneben versuchen sich Irak, Jordanien und Ägypten als traditionelle nahöstliche Kernländer seit 2020 stärker zu koordinieren. Diese geopolitischen Repositionierungen gehen mit einer starken Militarisierung einher. Obwohl der Nahe Osten und Nordafrika weniger als 6 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen und weniger als 5 Prozent zum BIP beitragen, entfällt auf die Region fast ein Drittel der weltweiten Waffenimporte. Der Abschied der USA von einer moderierenden Führungsrolle, die hegemonialen Ansprüche Russlands, die sich zuletzt im Angriff auf die Ukraine ab dem Frühjahr 2022 manifestierten, und das wachsende chinesische Engagement bergen die Gefahr, dass die Region nicht nur Schauplatz von regionalen Rivalitäten wird, sondern sich zu einer Bühne für weitere globale Konfrontationen entwickelt.

Die deutsche Nahost- und Nordafrikapolitik ist in die europäische Politik eingebettet und bewegt sich im Spannungsfeld zwischen der Rücksichtnahme auf die Interessen der europäischen Partner und der USA, der historischen Verantwortung gegenüber Israel und den Erwartungen der arabischen Staaten. Dieser Ansatz dokumentiert den Vorrang für regelbasierte multilaterale Lösungskonzepte in der deutschen Außenpolitik sowie den Wunsch, das außenpolitische Profil der EU zu stärken. Im Zuge der wachsenden außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen mit direktem Bezug auf die Region hat gleichwohl eine Ausdifferenzierung der Interessen Deutschlands stattgefunden. So ist vor allem das sicherheits- und migrationspolitische Interesse Deutschlands an der Region in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Aber auch wirtschaftlich ergeben sich neue Möglichkeiten.

Deutschlands bilateralen Beziehungen zu den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas sind vornehmlich gekennzeichnet durch technische, wirtschaftliche und entwicklungspolitische Zusammenarbeit. Die politische Aufmerksamkeit und das Engagement für die Region erhöhten sich zunächst mit den politischen Unruhen 2011 und viel stärker mit der sogenannten Migrationskrise im Jahre 2015. Seitdem hat die Bereitschaft in Deutschland, eine präsentere Rolle auf internationaler Bühne und in der Region einzunehmen, stetig zugenommen.

Die Werte-Orientierung deutscher Außenpolitik in einer nach wie vor von überwiegend autoritären Regimen geprägten Region umzusetzen, stellt eine besondere Herausforderung dar. Aus historischen Gründen, aber auch auf der Grundlage eines gemeinsamen demokratischen Wertefundaments ist Israel traditionell der engste Partner der Bundesrepublik in der Region. Dies betrifft sowohl kulturelle und gesellschaftliche Verbindungen als auch außen-, wirtschafts- und sicherheitspolitische Kooperation. Mit Tunesien hat erstmals ein arabisches Land gezeigt, dass eine demokratische Transformation möglich ist. Deutschland hat sein Engagement in Tunesien seit 2011 erheblich erhöht und dem kleinen nordafrikanischen Land seither über 1 Milliarde Euro an Krediten und Hilfen bereitgestellt.

Jenseits von Israel, mit dem die militärtechnologische Kooperation in den letzten Jahren weiter zugenommen hat, und dem NATO-Mitglied Türkei erweist sich die Entwicklung umfassender sicherheitspolitischer Partnerschaften in der Region als schwierig. Denn diese ist zum einen von „schwachen“ Staaten gekennzeichnet, die mit ihren inneren Umbrüchen zu kämpfen haben – und als regionale Gestaltungsmächte deshalb ausfallen. Zum anderen hat die Polarisierung innerhalb der Region zugenommen, autoritäre Regime wetteifern über Stellvertreterkonflikte um Einfluss. Gleichwohl konnten im Irak und in Jordanien mehrere hundert Bundeswehr-Soldaten stationiert werden, die über Ausbildungs- und Aufklärungsmissionen einen Beitrag zur Bekämpfung des Islamischen Staates leisten.

Insgesamt muss mit Blick auf das deutsche sicherheitspolitische Engagement eine gewisse Zurückhaltung festgestellt werden. Deutschland will Initiativen vermeiden, die als Alleingang interpretiert werden könnten. Allerdings sind Allianzen und Partnerschaften in der EU und auch der NATO brüchig geworden. Die EU ist paralysiert durch Interessensgegensätzeihrer Mitgliedsstaaten und hat an sicherheits- und außenpolitischem Gewicht eingebüßt. Der Iran-Deal von 2015, der als größter diplomatischer Erfolg der EU gefeiert wurde, gehört der Vergangenheit an. Während Europa im Syrien-Krieg kaum Relevanz zeigen konnte, hat der Libyen-Konflikt in dramatischer Weise die Unfähigkeit der EU offenbart, Interessenkonflikte zwischen ihren Mitgliedstaaten zu überwinden und eine Vermittlungsrolle zur Beilegung eines Konfliktes in ihrer direkten Nachbarschaft zu übernehmen. Die Bundesregierung hat hier 2019 eine wichtige außenpolitische Initiative ergriffen und den Berliner Prozess initiiert, der in verschiedenen Etappen externe Konfliktparteien für eine politische Lösung verpflichten soll. Dabei hat die Bundesregierung von Beginn an großen Wert darauf gelegt, die Initiative europäisch einzubetten und sie unter UN-Federführung zu stellen. Trotz einiger Rückschläge hat der Berliner Prozess zur Annäherung der Konfliktparteien in Libyen und zum unentbehrlichen Dialog der externen Akteure beigetragen. Eine Folgekonferenz auf Ebene der Außenminister im Juni 2021, die ebenfalls in Berlin stattfand, veranschaulicht, dass Deutschland dadurch auch längerfristig sein Renommee als zuverlässiger und fairer Vermittler gestärkt hat.

Wirtschaftlich ist die Region für Deutschland bislang von eher untergeordneter Bedeutung. Unter den 30 wichtigsten Handelspartnern der Bundesrepublik ist nur ein einziges Land aus der Region, nämlich die Türkei (Platz 17 im Jahr 2020). Deutschland exportiert nach Ägypten (in das mit 100 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste arabische Land) Waren im Wert von rund 4 Milliarden Euro (2020) – und damit weniger als beispielsweise nach Singapur oder Hongkong. Die Konflikte und Krisen in der Region und die mit Transformationsprozessen einhergehende Unsicherheit schrecken gerade den deutschen Mittelstand von Investitionen ab. Gleichwohl sind deutsche Unternehmen zum Beispiel in Tunesiens Automobilzulieferungs- und Textilindustrie wichtige Arbeitgeber. Bei den großen Infrastrukturprojekten der Golf-Staaten (etwa beim Bau der U-Bahn in Riad), aber auch in Ägypten (zum Beispiel bei Windkraftanlagen) konnten sich deutsche Konzerne wie Siemens lukrative Aufträge sichern. Andere ressourcenarme Staaten wie der Libanon stehen vor dem ökonomischen und fiskalischen Kollaps. Die ökonomischen Folgeschäden der Corona-Krise, etwa durch den Einbruch des Tourismus, verschärfen diese Situation zusätzlich. Hier sind wirtschafts- und handelspolitische Initiativen der EU gefragt, welche die dortigen Volkswirtschaften nachhaltig unterstützen.

Der Nahe Osten und Nordafrika verfügen über die Hälfte der weltweit bekannten Öl- und Gasreserven. Zwar bezieht Deutschland diese Rohstoffe nur in sehr geringen Mengen aus der Region, doch bleibt ihre verlässliche Förderung für die Weltwirtschaft von wichtiger Bedeutung und liegt damit auch im deutschen Interesse. Im Bereich der erneuerbaren Energien hat sich Deutschland vor allem in Nordafrika engagiert, wo sich Marokko zu einem Vorreiter in der Erzeugung von Solar- und Windenergie entwickelt hat. Umwelt- und Klimaschutz ist in der ganzen Region ein Schlüsselthema, das Deutschland bislang in erster Line über entwicklungspolitische Maßnahmen adressiert.

Derzeit ist das Hauptinteresse Deutschlands an der Region vor allem von innenpolitischen Faktoren bestimmt. Dies betrifft insbesondere die Problematik der ungesteuerten Migration. In den letzten zehn Jahren sind mehr als 2 Millionen Flüchtlinge und Migranten über das Mittelmeer nach Europa gelangt, davon mehr als 1 Million in Deutschland. Der Großteil kam 2015 über die Türkei und die östliche Mittelmeerroute. Im Nachgang des EU-Türkei-Abkommens im März 2016 reduzierten sich diese Bewegungen abrupt und es fand eine Verschiebung der Migrationsrouten über die zentrale hin zur westlichen Mittelmeerroute über die nordafrikanischen Mittelmeeranrainer statt. Ebenfalls veränderte sich das Profil der Migranten. Zunehmend machten sich Menschen vornehmlich aus Subsahara-Afrika aufgrund ökonomischer Missstände auf den Weg (unter anderem nach Europa). Die Zahl der Ankünfte in Europa ist zwar nicht besonders hoch. Aufgrund der staatlichen Fragilität (vor allem in Libyen) und dem Konfliktpotenzial in der Region ist eine Entspannung noch nicht in Sicht.

Zudem stehen heute die Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas vor ähnlichen migrationspolitischen Herausforderungen wie Europa: Der Druck auf ihre Land- und Seegrenzen wächst ebenso wie die innenpolitische Auseinandersetzung um den Umgang mit Flüchtlingen und Migranten. Seit 2015 haben Deutschland und die EU eine Vielzahl von Initiativen ergriffen, Programme initiiert und Migrationsabkommen abgeschlossen. Dazu gehören neben dem Abkommen mit der Türkei, Partnerschaften mit den Aufnahmeländern Jordanien und Libanon auch der Compact with Africa (unter anderem mit Ägypten, Tunesien und Marokko), der auf eine deutsche Initiative während der G20-Präsidentschaft im Jahre 2018 zurückgeht. Weitere Finanzierungen wurden den Ländern über die EU-Nachbarschaftsinstrumente und über die Europäische Investitionsbank zugesichert.

Tatsächlich haben sich Migration und Flucht in den letzten Jahren zur dominierenden Angelegenheit in der Zusammenarbeit zwischen Deutschland/EU und den südlichen Nachbarn entwickelt. Das Volumen der Entwicklungszusammenarbeit hat sich seit 2015 erheblich erhöht und legt nun einen stärkeren Fokus auf nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, auf Beschäftigung vor allem für die jungen Generationen sowie humanitäre Hilfe. Ursachenbekämpfung für irreguläre Migration sowie kurzfristige Maßnahmen zum Grenzschutz und Sofortprogramme für Flüchtlinge haben sich zu neuen Schwerpunkten der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in dieser Region entwickelt.

Die Nachfrage aus der Region nach einem aktiven außenpolitischen Engagements Deutschlands ist in den letzten Jahren gewachsen, während die EU aufgrund uneinheitlicher Positionen und widersprüchlicher Politiken ihrer Mitgliedsstaaten an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Die Bundesrepublik sollte künftig eine stärkere Gestaltungsrolle übernehmen, dabei aber ihren bisherigen Ansatz einer regelbasierten multilateralen Zusammenarbeit fortführen. In der krisen- und konfliktgeschüttelten Region besteht ein Mangel an Dialogforen und Kooperationsformaten zur Schaffung von nachhaltigen Strukturen für Frieden und Sicherheit. Die deutsche Außenpolitik kann sich viel stärker als bisher dieser schwierigen Aufgabe widmen, regional übergreifende Konfliktlösungsmechanismen anzubieten, ähnlich dem Modell des Berliner Prozesses für Libyen. Die Initiative zeigt, dass ein verstärktes internationales Engagement Deutschlands die Möglichkeit bietet, neben einer entwicklungspolitischen Stellung auch einen aktiven Status als Verhandlungs- und Sicherheitsakteur zu erlangen.

Einer Erweiterung der bestehenden sicherheitspolitischen Partnerschaften in der Region Naher Osten und Nordafrika über Israel und die Türkei hinaus sind enge Grenzen gesetzt. In jedem Fall sollte die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit dem Irak weiter vertieft werden, um das Land beim Kampf gegen islamistischen Terror zu unterstützen. Ähnliches gilt für Länder wie Jordanien, Libanon und Tunesien, zu deren „militärischer Ertüchtigung“ Deutschland im Verbund mit seinen europäischen und internationalen Partnern einen Beitrag leisten kann. Zu einem wichtigen sicherheitspolitischen Partner für die Stabilität in Nordafrika und in der Sahel-Zone könnte sich Algerien entwickeln, das über die entsprechende militärische Stärke und das politische Kapital verfügt.

Trotz aller Gewalteskalation und des weitgehenden Scheiterns der Protestbewegungen des sogenannten Arabischen Frühlings von 2011: Wohin sich die Region politisch langfristig entwickelt, ist nach wie vor offen. Die Massendemonstrationen des Jahres 2019 in mehreren Ländern haben erneut gezeigt, wie präsent die Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit, nach politischer und sozio-ökonomischer Teilhabe in den Gesellschaften der Region weiterhin sind. Für eine nachhaltige Stabilisierung und Entwicklung der Region muss immer auch diese Governance-Dimension berücksichtigt werden. Sollten sich zumindest in einigen Ländern demokratische Tendenzen durchsetzen können, wäre dies zudem mit Blick auf den globalen Systemwettbewerb ein wichtiges Signal. Deutschland sollte deshalb zu Ländern, die sich um demokratische Reformen bemühen, besonders enge Beziehungen pflegen. Neben einem starken Fokus auf Tunesien gilt es dabei auch Länder wie Marokko, Jordanien, Libanon und den Irak zu ermutigen, rechtsstaatliche und partizipative Strukturen zu stärken und dafür besondere Unterstützung bereitzustellen. Jenseits der Regierungsbeziehungen kann Deutschland über sein differenziertes außenpolitisches Instrumentarium (wie Mittler-Organisationen, Stiftungen, Verbände) den Kontakt zu politischen, zivilgesellschaftlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren weiter ausbauen, die sich in ihren jeweiligen Ländern für eine positive und wertebasierte Reformagenda einsetzen.

Der Nahe Osten und Nordafrika sind ein wachsender Markt mit mehr als 400 Millionen Menschen. Die öl- und gasbasierten Renten-Ökonomien brauchen für ihre Modernisierung und Differenzierung, wie sie derzeit etwa in Saudi-Arabien vorangetrieben werden, internationale Partner. Für deutsche Unternehmen bieten sich hier, von der Infrastruktur bis zur Gesundheits- oder Unterhaltungsindustrie, neue und bislang oftmals verschlossene Geschäftsfelder. Auch in den kriegszerstörten Gebieten wird sich die Frage des Wiederaufbaus stellen. In jedem Fall sollte die Region nicht nur als Absatzmarkt für deutsche Produkte wahrgenommen werden, sondern auch als Partner zur Entwicklung von Innovation. Wenn es gelingt, die Konflikte zu deeskalieren und geeignete politische Strukturen aufzubauen, kann die in der Region vorhandene Kombination aus junger Bevölkerung, Transformationsprozessen und Ressourcenreichtum enormes ökonomisches Potenzial entfalten.

Jenseits der Frage nach der Förderung von Öl und Gas werden umwelt- und klimapolitische Herausforderungen die Stabilität der Region langfristig mitbestimmen. Die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen von Umweltproblemen (von Wasserknappheit bis zur mangelhaften Müllentsorgung) werden zunehmend sichtbar. Hier kann Deutschland ansetzen und kooperationswillige Länder in der Region beim nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen und dem Ausbau erneuerbarer Energien unterstützen – allen voran den Irak, dessen Stabilität für die ganze Nahost-Region von großer Bedeutung ist. Aber Interesse an deutscher Expertise beispielsweise im Bereich der Solarenergie äußern auch sonst sehr auf ihre Souveränität bedachte Länder wie die Golf-Staaten oder Algerien. Zugleich bieten umwelt- und klimapolitische Maßnahmen die Möglichkeit zu niederschwelliger grenzübergreifender Zusammenarbeit, wie sie zumindest in Ansätzen zwischen Israel, den Palästinensischen Gebieten und Jordanien entwickelt wurde.

Die Migrationsfrage bleibt auf beiden Seiten des Mittelmeers oben auf der Tagesordnung. Deutschland sollte nach Kooperationsebenen suchen, die auch im primären Interesse der südlichen Nachbarn sind, gemeinsam Prioritäten definieren und Projekte in Abstimmung entwickeln. Vor allem müssen Initiativen vermieden werden, die für die Länder nicht akzeptabel sind. Andernfalls könnte die Migrationsfrage zu einer Krise des Vertrauens und einer weiteren Instabilität an den Rändern Europas werden. Insbesondere könnte Deutschland die Unterstützung der Länder bei der Gestaltung ihrer Asyl- und Migrationspolitiken verstärken, um sie nicht mit wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lasten völlig alleine zu lassen. Der politische Willen dazu ist in einigen Ländern bereits vorhanden. Marokko hat bisher als einziges Land eine Nationale Migrations- und Asylstrategie initiiert, die die Einführung einer kohärenten und menschenrechtsbasierten Politik vorsieht und Migrationsabkommen mit mehreren afrikanischen Ländern unterzeichnet. Bei der Erarbeitung auch multilateraler Initiativen zur Regulierung von Migration kann Marokko eine Brückenfunktion zwischen Europa und Afrika ausüben.

In den bilateralen Beziehungen mit den Ländern der Region ist Deutschland angehalten, auf der Grundlage eigener Interessen und Werte auf diplomatische Initiativen zu setzen, die ebenfalls die Prioritäten des Partnerlandes berücksichtigen. Dafür sollte sich die Außen- und Entwicklungspolitik nicht nur auf die kurzfristigen Ziele der Eindämmung von Migration und den Schutz der Grenzen konzentrieren, sondern vielmehr auch die nachhaltige wirtschaftliche und politische Entwicklung in ausgewählten Partnerländern in den Blick nehmen.

Canan Atilgan ist Leiterin „Naher Osten und Nordafrika“ in der Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit;
Edmund Ratka ist Leiter des Auslandsbüros Jordanien.

Aktualisiert am: 19.07.2021

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