Partner-Atlas

TUNESIEN

Als Partner für die Stärkung einer werte- und regelbasierten Weltordnung

01 — Die Leitfragen zum Partner-Atlas

RELEVANZ: Welche Relevanz hat Tunesien für Deutschland, wenn es darum geht, das Interesse "Die Stärkung einer werte- und regelbasierte Weltordnung" zu verwirklichen?

In vielerlei Hinsicht nimmt Tunesien in der MENA-Region eine Sonderrolle ein. Als direkter Nachbar Europas haben Handel, Gastarbeiter und enge politische Beziehungen Tunesiens Gesellschaft stark europäisch geprägt. Säkularisierung und Modernisierung haben Tunesiens Politik nach der Unabhängigkeit bestimmt und entfalten ihre Wirkung bis heute. Tunesien schlug als einziges Land in der arabischen Welt nach den Protesten von 2011 mittelfristig einen Weg in Richtung Demokratisierung ein. Die Überwindung des autoritären Ben Ali-Regimes, der Übergang in die Transformationsphase sowie die Errungenschaften der Revolution haben eine Sonderstellung Tunesiens begünstigt: Die tunesische Verfassung aus dem Jahr 2014, die den zivilen Charakter des Staates definiert, gilt trotz einiger Defizite als eine der liberalsten in der Region.

Seit dem Staatsstreich von Präsident Kais Saied am 25. Juli 2021 wurden schrittweise die Gewaltenteilung, der Rechtsstaat und die Verfassung aufgehoben sowie zentrale staatliche Institutionen entmachtet oder der Kontrolle des Präsidenten unterstellt. Ferner droht dieser entscheidenden Zäsur in der tunesischen Zeitgeschichte nun die Konsolidierungsphase zu folgen, in der die autoritären Einschnitte in Form zweifelhafter Referenden die langfristige Legitimationsbasis für eine „neue Republik“ und damit die Festigung des gegenwärtigen Status Quo gewährleisten sollen. Der systematische Abbau demokratischer Errungenschaften hat nicht nur den Weg in ein präsidentiell-autokratisches Regierungssystem geebnet, sondern auch antidemokratische Einstellungen, Populismus und generell die Skeptiker an der Umsetzbarkeit der Demokratie in der gesamten arabischen Welt bestätigt. Begleitet werden die innenpolitischen Entwicklungen von einer Zunahme der Europa- und Westskepsis unter vielen Tunesiern und einer zunehmend kritischen Haltung der Staatsführung gegenüber dem Ausland und seinen Akteuren in Tunesien. Obgleich die tunesische Regierung unter den Vorzeichen einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise mehr denn je auf eine multilaterale Zusammenarbeit mit dem Ausland angewiesen ist, macht sich eine gegenüber westlichen Grundwerten ambivalente, inkonsistente Haltung bemerkbar.

BEREITSCHAFT: Wie groß ist die Bereitschaft Tunesiens, mit Deutschland zur Verwirklichung dieses Interesses zusammenzuarbeiten?

Als frankofones Land gilt das Interesse zunächst Frankreich mit der größten tunesischen Diaspora. Frankreich haftet aber weiterhin der Makel der ehemaligen Kolonialmacht an, während Deutschland, in dem nach Frankreich und Italien die drittgrößte tunesische Diaspora lebt, diesbezüglich als eher unverdächtiger Partner wahrgenommen wird. Dazu tragen die beinahe omnipräsente deutsche Entwicklungszusammenarbeit und das Engagement deutscher Unternehmen in Tunesien bei, die das Land auch in Krisenzeiten nicht verlassen haben. Diese positive Einstellung gegenüber Deutschland besteht insbesondere innerhalb der gebildeten älteren Bevölkerungsgruppe, junge Tunesier sehen die Beziehungen häufig skeptischer. Das Interesse der Regierung an einer Kooperation mit Deutschland und Europa ist ungebrochen hoch, jedoch hat sich die traditionell enge Zusammenarbeit im Zuge des autoritären Kurses Präsident Saieds merklich verändert und die z.T. harschen Töne gegenüber auch den wichtigsten internationalen Partnern Tunesiens wie Europa und den USA bei gleichzeitiger verstärkter Ost-Orientierung in Richtung Ägypten, Golfstaaten, Russland und China tragen nicht zu einer Festigung der Beziehungen zum Westen bei.

STATUS QUO: Wie eng ist die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Tunesien aktuell in diesem Bereich?

Deutschland und Tunesien pflegen seit der Unabhängigkeit Tunesiens 1956 diplomatische Beziehungen. Mit dem Beginn der Demokratisierung 2011 wurde diese Zusammenarbeit noch erweitert und vertieft. Die wirtschaftliche Verflechtung mit Europa und Deutschland ist hoch. Rund zwei Drittel des tunesischen Außenhandels werden mit der Europäischen Union abgewickelt, der Großteil der ausländischen Investitionen kommt von dort. Deutschland zählt zu den größten ausländischen Investoren in Tunesien. Die deutsche Außenpolitik bewertet Tunesien als das bedeutendste Zielland der Transformationspartnerschaft der Bundesregierung mit der arabischen Welt. Tunesien hat 1995 ein Assoziationsabkommen mit der EU abgeschlossen, gefolgt vom Status einer privilegierten Partnerschaft (2012), einem Freihandelsabkommen (2015) und der Reformpartnerschaft (2017). Schwerpunkte deutscher Entwicklungszusammenarbeit umfassen derzeit berufliche Bildung, Privatsektor- und Finanzsystementwicklung, gute Regierungsführung und Reformen des öffentlichen Sektors, Initiativen im Bereich der erneuerbaren Energie und Energieeffizienz sowie Umweltschutz und Ressourcensicherheit. Unter dem Eindruck der sich vertiefenden Wirtschaftskrise, der exorbitanten Staatsverschuldung Tunesiens und der innenpolitischen Entwicklungen des letzten Jahres, droht die Zusammenarbeit jedoch in einigen Bereichen zu stagnieren.

POTENZIAL: Wie groß ist das Potenzial, die Partnerschaft zwischen Deutschland und Tunesien in diesem Bereich zu intensivieren?

Tunesiens außenpolitische Strategie, die wie zuletzt in Fragen der Nähe zu den internationalen Großmächten (Ukraine-Konflikt) auf eine traditionelle Neutralität pocht, befindet sich noch in der konstitutiven Phase: Unter anderem geht es bei diesbezüglichen Debatten um den Ausbau der Kooperation im Maghreb, den Umgang mit Akteuren wie China, Russland, Türkei, Iran oder auch Katar, die zunehmendes Engagement in Tunesien zeigen und umgekehrt für Tunesien als finanzielle und wirtschaftliche Partner wichtiger denn je sind, aber auch um die weitere Ausgestaltung der Beziehungen zu Europa. Das Potenzial der Partnerschaft mit Deutschland muss vor dem Hintergrund dieser Diversifizierung der Beziehungen bewertet werden. Die wirtschaftliche Verflechtung der Länder wird weiter hoch sein, zumal Tunesien für die bereits ansässigen deutschen Unternehmen als Standort noch vergleichsweise attraktiv bleibt, wenngleich viele Firmen für Investitionen auf Marokko oder gar Ägypten ausweichen. Die gesellschaftliche Verflechtung wird nicht zuletzt wegen des von Deutschland angestrebten Zustroms tunesischer Fachkräfte weiter zunehmen. Dennoch muss das Potenzial einer Intensivierung der Wertepartnerschaft realistisch gesehen als derzeit ferner rückendes Ziel gesehen werden: Gründe hierfür sind die seit Jahren stagnierenden Reformbemühungen, die desaströse Wirtschafts- und Finanzlage Tunesiens, politische und gesellschaftliche Instabilität sowie die jüngsten innenpolitischen Entwicklungen, im Rahmen derer die meisten der mit großen Opfern errungenen demokratischen Erfolge vorerst von autoritären Elementen abgelöst wurden.

POLITIKEMPFEHLUNG: Was muss sich in der deutschen Außenpolitik ändern, damit dieses Potenzial vollumfänglich ausgeschöpft werden kann?

Im Interesse einer Aufrechterhaltung und Vertiefung der deutsch-tunesischen Zusammenarbeit ergibt sich angesichts des derzeitigen Negativtrends ein akuter Handlungsbedarf. Die bestehenden Beziehungen müssen noch stärker für einen Dialog zu Werten und Ordnungskonzepten genutzt werden. Dieser Dialog muss transparent, „auf Augenhöhe“ aber auch bestimmt geführt werden: Dabei sollten neben der Außenpolitik und der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit auch die Softpower deutscher und tunesischer Organisationen genutzt werden, um einen solchen Dialog – vor allem aber auch das im Rahmen der bilateralen Kooperation von Deutschland Geleistete – nicht als Angriff auf die Souveränität des Landes erscheinen zu lassen. Der zunehmenden kritischen Einstellung junger Tunesier gegenüber Deutschland muss durch mehr Transparenz bei politischen Entscheidungen und einer stärkeren Ausrichtung der Zusammenarbeit auf diese Bevölkerungsgruppe begegnet werden. Hierbei sollte auch gezielt die wachsende (junge) tunesische Diaspora mit gelebtem Deutschlandbezug und positiven Erfahrungen adressiert werden, um demokratische Werte zu vermitteln und Brücken zwischen Deutschland und Tunesien als zusätzliche Pfeiler einer Wertepartnerschaft zu bauen. 

Der Dialog zu Wertefragen sollte zudem nicht zu stark auf Themen basieren, die insbesondere die konservativ-religiösen Kräfte überfordern könnten und populistischen Kräften in die Hände spielen. Die Vermittlung eines im Kern (europäisch) einheitlichen Werteverständnisses, dessen Grundpfeiler – Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit – nicht verhandelbar sind, sollte und kann nicht getrennt von den umfangreichen Leistungen europäischer und deutscher Zusammenarbeit mit Tunesien gedacht werden. Im Kontext einer möglichen Neuaufstellung der bilateralen Kooperation, sollte das Instrument der Konditionalität nicht per se verworfen, sondern vielmehr sorgfältig geprüft werden. 

Die neuen innenpolitischen Rahmenbedingungen erfordern eine deutliche Identifikation und langfristige Stärkung jener Akteure, die als verbleibende „Wertepartner“ trotz aller (persönlichen) Risiken weiterhin an unserem Wertefundament festhalten und dieses verteidigen. Sie agieren als Widerstandskräfte gegen den autoritären Trend. Dabei gilt es, ein glaubwürdiges Gegennarrativ aufzubauen zum bestehenden populistischen Narrativ eines dem Ausland zuarbeitenden und von diesem gesteuerten homogenen Oppositionsblock. Angesichts der steigenden Zahl von internationalen Akteuren in Tunesien, die andere als unsere Werte und Regelwerke vertreten, sollten die komparativen Vorteile guter Beziehungen zu Deutschland in der tunesischen Öffentlichkeit stärker herausgearbeitet und kommuniziert werden.

Dr. Malte Gaier leitet seit August 2021 das KAS-Auslandsbüro Tunesien.

Aktualisiert am: 31.05.2022

TUNESIEN

  • Population: 11.824.128
  • Capital: Tunis
  • Interesse: Die Stärkung einer werte- und regelbasierten Weltordnung
  • Region: Naher Osten und Nordafrika

04 — Die Region

Naher Osten und Nordafrika

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KATAR

Als zweitkleinstes Land der arabischen Golfregion (und einem Anteil von weniger als 15 Prozent katarischer Staatsbürgerinnen und -bürger an der Gesamtbevölkerung) findet sich Katar in einer Nachbarschaft wieder, in der die Furcht vor hegemonialen Ambitionen größerer Staaten sowie die Erinnerung an die Blockade durch Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Bahrain und Ägypten von 2017 bis 2021 fortwirkt.

  • Population: 2.982.124
  • Capital: Doha
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MAROKKO

Marokko hat sich in den letzten Jahren zu einem wichtigen Partner Deutschlands in Migrationsfragen entwickelt. Das Königreich hat zum einen eine besondere Rolle innerhalb der Afrikanischen Union (AU) und der internationalen Gemeinschaft übernommen, zum anderen ist es selbst eines der Länder, in der Migration in unterschiedlicher Art und Weise stattfindet. Im Februar 2019 präsentierte Marokko bei der AU eine neue Migrationspolitik für Afrika und stellte die Perspektive der Entwicklung durch Migration in den Vordergrund. Die neue Politik legt besonderen Wert darauf, dass Migration kein Sicherheitsproblem ist, sondern in erster Linie Fluchtursachen zu bekämpfen sind. 

  • Population: 36.930.188
  • Capital: Rabat
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LIBYEN

Libyen ist zwar das viertgrößte Land auf dem afrikanischen Kontinent, liegt in direkter Nachbarschaft zu Europa und ist reich an Bodenschätzen, spielte aber abseits der üppigen Erdölimporte Deutschlands bislang als deutscher Handelspartner eine eher untergeordnete Rolle. Dies ist verständlich. Die Machtkämpfe verschiedener Fraktionen, die das Land nach dem Sturz Muammar Al-Gaddafis 2011 ins Chaos stürzten und in verschiedenen Bürgerkriegen mündeten, zerstörten nahezu alle Wirtschaftszweige im Land.

  • Population: 7.056.971
  • Capital: Tripolis
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JORDANIEN

Jordanien gilt spätestens seit dem „Arabischen Frühling“, der viele Länder der Region in ihren Grundfesten erschütterte, als Stabilitätsanker. Für die deutsche Außenpolitik ist die Aufrechterhaltung dieser Stabilität von zentralem Interesse.

  • Population: 10.402.753
  • Capital: Amman
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ISRAEL

Deutschland und Israel pflegen eine intensive Partnerschaft, die sowohl auf gemeinsamen Interessen als auch auf geteilten Werten beruht. Den Ausgangspunkt der besonderen Beziehungen bilden die Shoa und die davon abgeleitete historische Verantwortung. Dass zwei Staatsmänner, Konrad Adenauer und David Ben-Gurion, den Grundstein dafür legten, bezeichnete der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert in einer Rede vor der Knesset im Jahr 2015 als „doppelten Glücksfall der Geschichte“.

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SAUDI-ARABIEN

Die Relevanz Saudi-Arabiens für Deutschlands Wirtschaftsinteressen ergibt sich aus der grundsätzlichen Bedeutung des Landes für Stabilität und Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten, den Bestrebungen zur Modernisierung und Diversifizierung seiner Wirtschaft sowie seinem Ölreichtum.

  • Population: 34.813.871
  • Capital: Riyad
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IRAK

Der Irak besitzt weltweit die fünftgrößten Erdöl- und die zwölftgrößten Erdgasreserven. Das Land ist Gründungsmitglied der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) und dort in den letzten Jahren zum zweitgrößten Produzenten aufgestiegen. Für die kommenden Jahre erwägt die irakische Regierung, den Öl- und Gassektor weiter auszubauen und die Förderkapazitäten damit noch stärker zu erhöhen, obwohl Experten sowie Regierungsmitglieder eine Diversifizierung des irakischen Wirtschafts- und Energiesektors fordern. Der Irak spielt eine wichtige Rolle für die Stabilität der globalen Energiemärkte, die auch für Deutschland als erfolgreiche Technologie- und Exportnation von hoher Bedeutung ist.

  • Population: 40.263.275
  • Capital: Bagdad
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ALGERIEN

Als flächenmäßig größtes Land Afrikas, Scharnierstaat zwischen der MENA-Region, sowie der Sahelzone und unmittelbarer Nachbar besitzt Algerien eine natürliche Relevanz für Deutschland und Europa. Die Armee besitzt als Institution einen hohen Stellenwert und die Verteidigungsausgaben liegen stabil bei 6% des BIP.

  • Population: 43.886.707
  • Capital: Alger
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TUNESIEN

In vielerlei Hinsicht nimmt Tunesien in der MENA-Region eine Sonderrolle ein. Als direkter Nachbar Europas haben Handel, Gastarbeiter und enge politische Beziehungen Tunesiens Gesellschaft stark europäisch geprägt. Säkularisierung und Modernisierung haben Tunesiens Politik nach der Unabhängigkeit bestimmt und entfalten ihre Wirkung bis heute. Tunesien schlug als einziges Land in der arabischen Welt nach den Protesten von 2011 mittelfristig einen Weg in Richtung Demokratisierung ein. Die Überwindung des autoritären Ben Ali-Regimes, der Übergang in die Transformationsphase sowie die Errungenschaften der Revolution haben eine Sonderstellung Tunesiens begünstigt: Die tunesische Verfassung aus dem Jahr 2014, die den zivilen Charakter des Staates definiert, gilt trotz einiger Defizite als eine der liberalsten in der Region.

  • Population: 11.824.128
  • Capital: Tunis
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MAROKKO

Das Königreich Marokko ist aufgrund seiner geografischen Lage am Atlantik, der Mittelmeerküste und dem Nordrand der Sahara für den Klimawandel und seine negativen Folgen äußerst anfällig. Es hatte das Thema früh und ambitioniert auf die eigene Agenda gesetzt. 2016 war Marrakesch Gastgeber der 22. Internationalen Klimakonferenz (COP 22). Heute zeigt sich Marokko in den Bereichen Klimaschutz und Nachhaltigkeit sogar als regional führend.

  • Population: 36.930.188
  • Capital: Rabat
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