PARTNER-ATLAS
INDIEN
Als Partner für die Stärkung einer werte- und regelbasierten Weltordnung
01 — Die Leitfragen zum Partner-Atlas
RELEVANZ: Welche Relevanz hat Indien für Deutschland, wenn es darum geht, das Interesse "Die Stärkung einer werte- und regelbasierten Weltordnung" zu verwirklichen?
Deutschland hat ein vitales Interesse daran, eine Weltordnung, die auf den Werten der liberalen Demokratie und der Zentralität der Vereinten Nationen (VN) beruht, zu bewahren und zu festigen. Auch wenn die USA unter Präsident Biden wieder eine führende Rolle auf der Weltbühne einnehmen, hat die Vernachlässigung internationaler Foren unter der Trump-Regierung eines deutlich gemacht: Deutschland muss proaktiv mit anderen internationalen Partnern dieses Ziel verfolgen. Mit den im September 2020 veröffentlichten Leitlinien zum Indo-Pazifik widmet sich die Bundesregierung ebendieser Aufgabe in der Region, die im 21. Jahrhundert in den Mittelpunkt der globalen Dynamik rückt. Indiens Bedeutung ist dabei kaum zu überschätzen: Bereits jetzt ist Indien die größte Demokratie der Welt – und innerhalb der 2020er Jahre wird es China als bevölkerungsreichstes Land ablösen. Der Subkontinent an der Schnittstelle des Indo-Pazifiks ist wie Deutschland auf eine solide Sicherheitsarchitektur, ein offenes Handelssystem sowie freie Schifffahrt in internationalen Gewässern angewiesen. Von den Folgen der Erderwärmung ist Indien durch sein komplexes Klima besonders stark betroffen und setzt auf multilaterale Ansätze zur Lösung dieses globalen Problems.
So sinnvoll eine vertiefte deutsch-indische Kooperation zur Stärkung der Weltordnung ist, muss die Bundesregierung dabei auch Indiens innenpolitischer Entwicklung Rechnung tragen. Eine wertebasierte Zusammenarbeit kann den ausgeprägten Hindu-Nationalismus und die mitunter diskriminierende Gesetzgebung der Modi-Regierung nicht ausblenden. Auch muss festgehalten werden, dass Indien gegenüber Russland mit Blick auf dessen Krieg gegen die Ukraine eine gedämpfte Politik verfolgt, die von seinen eigenen sicherheitspolitischen und strategischen Interessen geleitet ist und die in Deutschland und anderen Demokratien auf Kritik stößt. Für Deutschland und die internationale Gemeinschaft ist ein wichtiger Aspekt der Zusammenarbeit daher, das säkulare System der Vielfalt und Toleranz, aus dem Indien seine große Stärke gezogen hat, nach Kräften zu unterstützen. Das Potenzial für eine gemeinsame Stärkung der werte- und regelbasierten Weltordnung hängt in entscheidender Weise davon ab, inwieweit Indien im eigenen Land und auf internationaler Ebene fürdie liberalen Werte eintritt, auf deren Grundlage es zur größten Demokratie geworden ist.
BEREITSCHAFT: Wie groß ist die Bereitschaft von Indien, mit Deutschland zur Verwirklichung dieses Interesses zusammenzuarbeiten?
Die indische Außenpolitik unter Modi und seinem Außenminister Jaishankar unterscheidet sich in ihrer Dynamik und in ihren Ambitionen erheblich von der Zurückhaltung, die Indien seit seiner Unabhängigkeit in weiten Teilen prägte. Neu-Delhi arbeitet auf eine multipolare Weltordnung hin, in der es pragmatisch und mit erklärter Risikobereitschaft die strategische Annäherung mit internationalen Partnern sucht.
In Indiens Nachbarschaft tritt China zunehmend offensiv auf und schmiedet dabei auch strategische Koalitionen. Mit seiner Belt and Road Initiative errichtet Beijing nicht nur Schienen, Pipelines und Häfen rings um Indien herum, sondern zieht auch die Regierungen der Abnehmerländer in eine politische Abhängigkeit. Auch sieht Indien in China eine militärische Bedrohung, die sich erst 2020 in mehreren tödlichen Zusammenstößen am Rande des Himalaya manifestierte. Indiens Militär wiederum ist in weiten Teilen mit Waffen aus russischer Produktion ausgestattet, wodurch ein Bruch der Beziehungen mit Moskau für Neu-Delhi trotz dessen Aggression gegen die Ukraine derzeit nicht in Frage kommt.
Indien will unbedingt verhindern, bei der globalen Gestaltung abgehängt zu werden. Es setzt daher auf unterschiedliche Karten und zeigt dabei nicht zuletzt eine dezidierte Bereitschaft, mit Deutschland zur Stärkung der Weltordnung zu kooperieren. So erklärte der indische Außenminister bei einem Treffen der Allianz für den Multilateralismus im September 2019 in New York, dass sein Land „mit Freude“ dieser Allianz beitrete, da Multilateralismus von größter Bedeutung sei und weltweit durch Nationalismus und Merkantilismus unter Druck gerate.
STATUS QUO: Wie eng ist die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Indien aktuell in diesem Bereich?
Bei den sechsten deutsch-indischen Regierungskonsultationen im Mai 2022 in Berlin unterzeichneten Bundeskanzler Scholz und Premierminister Modi eine Absichtserklärung über eine Partnerschaft für grüne und nachhaltige Entwicklung. In diesem Themenbereich haben beide Regierungen große Interessensübereinstimmungen identifiziert und streben an, auch gemeinsam in Drittländern Unterstützung zu leisten. Das Format der Regierungskonsultationen an sich ist Zeugnis dafür, dass beide Länder einer tiefen Zusammenarbeit große Bedeutung beimessen. Der gemeinsame Einsatz beider Länder zur Stärkung der internationalen regelbasierten Ordnung gehört explizit zum Fundament dieses zweijährlichen Austausches.
Auf dieser Vertrauensbasis tasten sich Deutschland und Indien zunehmend in jüngeren multilateralen Initiativen vor. Neben der deutsch-französischen Allianz für den Multilateralismus gilt dies auch für themenspezifische Formate, die von Indien ins Leben gerufen wurden. Deutschland ist Mitglied der von Indien geführten Coalition for Disaster Resilient Infrastructure (CDRI), die weltweit den Schaden durch Naturkatastrophen begrenzen will. Zudem ist die Bundesregierung der International Solar Alliance (ISA) beigetreten, um gemeinsam mit Indien umweltfreundliche und nachhaltige Energiegewinnung zu fördern.
Am Rande der vorherigen Regierungskonsultationen in Indien im Jahr 2019 wurden allerdings auch Meinungsverschiedenheiten deutlich, die im Rahmen einer wertebasierten Zusammenarbeit diskutiert werden müssen. Während sich die damalige Bundeskanzlerin Merkel auf die harten Maßnahmen der indischen Regierung in der Provinz Kaschmir bezog, wird die Diskussion auf Arbeitsebene zweifellos auch zu kontroversen Fragen der Staatsbürgerschaft und ethnischer bzw. religiöser Diskriminierung fortgesetzt.
POTENZIAL: Wie groß ist das Potenzial, die Partnerschaft zwischen Deutschland und Indien in diesem Bereich zu intensivieren?
Angesichts der Polarisierung zwischen autoritären und demokratischen Staaten, die sich durch die Corona-Pandemie und durch den Krieg in der Ukraine zuspitzt, ist das Potenzial für eine stärkere deutsch-indische Partnerschaft zum Erhalt der regelbasierten Weltordnung enorm. Die Kooperation in den bereits genannten multilateralen Formaten hat gerade erst begonnen und wird von den unzähligen Facetten der bestehenden Strategischen Partnerschaft untermauert. Durch die Vertrauensbildung, die mit einer konstruktiven Zusammenarbeit in jeder dieser Initiativen einhergeht, wächst das Potenzial für deutsch-indische Gestaltungspolitik. Dabei muss das Ziel sein, durch die Zusammenarbeit dieser zwei außenpolitisch einflussreichen Staaten eine Hebelwirkung zu entfalten und weitere Partner für multilaterale Allianzen zu gewinnen.
Die Zurückhaltung Neu-Delhis hinsichtlich einer Verurteilung des russischen Kriegs gegen die Ukraine und das Fernhalten von damit einhergehenden Sanktionen sind aus deutscher Sicht ein Hindernis für ein stärkeres Verständnis zwischen den beiden Staaten. Hier müssen die indischen Interessen nüchtern betrachtet werden: Indien kann die Abhängigkeit von Russland im Rüstungsbereich nicht zeitnah abschütteln, es sieht sich von dem Krieg nicht in gleicher Weise bedroht wie Europa und zudem ist es nicht daran interessiert, durch eine Konfrontation mit Russland die Achse zwischen Moskau und Peking noch weiter zu stärken. Deutschland muss sich daher fragen, ob und welche Angebote es an Indien machen kann, die seine Interessensabwägung gegenüber Russland ändern würden.
Erhebliches Potenzial besteht hier nicht zuletzt im Bereich der Sicherheitspolitik. Die Bundesregierung gestand gegenüber ihren indischen Partnern ein, dass für eine Machtbalance in der indo-pazifischen Region auch „hard security“ nötig sei, also militärische Kapazitäten. Um das deutsch-indische Kooperationspotenzial auch für den gemeinsamen Bau und Erhalt einer Sicherheitsarchitektur zu nutzen, wäre eine größere Vertrauensbildung im Bereich der militärischen Kooperation dringend nötig, auch um längerfristig die Rüstungskooperation zwischen NATO und Indien ausbauen zu können.
POLITIKEMPFEHLUNG: Was muss sich in der deutschen Außenpolitik ändern, damit dieses Potenzial vollumfänglich ausgeschöpft werden kann?
Um mit Indien die regelbasierte Weltordnung zu stärken, muss die deutsche Außenpolitik zielstrebiger und mutiger, aber auch flexibler werden. In der Vergangenheit wurde bereits an vielen Stellen klar, dass Indien kein einfacher Partner ist; auch Indiens Bekenntnis zu der Allianz für den Multilateralismus erfolgte nicht im ersten Anlauf. Da dieser Schritt inzwischen getan ist, müssen die Partner ihre multilaterale Kooperation jetzt mit Leben füllen. Es wird sich für Deutschland auszahlen, konkrete Vorhaben selbstbewusst und konsequent zu verfolgen. Im Sinne einer Zusammenarbeit basierend auf gemeinsamen Werten sollte Deutschland – auch zusammen mit der EU – konsequent an Indien appellieren, seine Stärke gerade aus der Pluralität zu schöpfen, für die es weltweit Anerkennung genießt.
Gleichzeitig sollte sich Deutschland mit Überzeugung und der nötigen Flexibilität in den von Indien angestoßenen multilateralen Initiativen engagieren. Zur Bekämpfung der Corona-Pandemie sollten die beiden Staaten entschlossen für langfristige globale Lösungen bei der medizinischen Versorgung sowie in der Bildung von Resilienz eintreten. Graduell sollten im Feld der Sicherheitspolitik kleinere Kooperationsformate gestärkt werden, um die Grundlage für vertiefte Zusammenarbeit zu schaffen. Beide Seiten müssen einander beweisen, dass sie für stärkere Kooperation Kompromisse eingehen können.
Die wohl wichtigste Änderung wäre jedoch ein grundlegendes Umdenken. Die Bundesregierung muss auf ihre Leitlinien auch Handlungen im Indo-Pazifik folgen lassen. Zu Recht bringt Deutschland enorme Ressourcen für die Bewältigung von Krisen und akuten strategischen Herausforderungen auf. Doch gleichzeitig stehen die Entscheidungsträger in der Außenpolitik und Diplomatie in der Pflicht, sich mit einem langfristigen Blick auf Indien zu konzentrieren und dafür auch entsprechende Kapazitäten aufzubauen. Denn kein anderes Land hat im Indo-Pazifik, der zukunftsweisenden Weltregion, eine größere Bedeutung, wenn es um die Lösung globaler Probleme und damit um die Stärkung der werte- und regelbasierten internationalen Ordnung geht.
Lewe Paul ist Referent „Südasien“ in der Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit.
Aktualisiert am: 04.05.2022
02 — Auslandsbüro
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